Startseite • Analysen • Studien • Coolout: ein Spannungsfeld im Pflegealltag

Bereits zum zweiten Mal hat das IFBG – Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung in Kooperation mit der BARMER Pflegekräfte zu ihren Belastungen und Ressourcen befragt. In der ersten Studie aus Anfang 2022 konnten insgesamt über 1.000 Beschäftigte (N=1.004) aus dem stationären und ambulanten Pflegebereich rekrutiert und zu Themen wie quantitative Anforderungen, Arbeitszufriedenheit oder Burnout-Risiko befragt werden. Dabei hat sich herausgestellt, dass die beruflichen Anforderungen für Pflegekräfte durch die Corona-Pandemie deutlich zugenommen haben (detaillierte Ergebnisse finden Sie in der Pflegestudie 1.0).
Um Entwicklungen sichtbar zu machen, haben wir in diesem Jahr vom 1. bis 30. Juni erneut über 1.000 Pflegekräfte (N=1.035) nach deren Belastungen und Ressourcen im Arbeitsalltag gefragt. Neben Themenfeldern, die wiederholt befragt wurden, haben wir auch weitere, u. a. pflegespezifische, Aspekte der Arbeitswelt integriert, um die Belastungssituation der Pflegekräfte näher zu beleuchten.
- Die ersten Ergebnisse der Pflegestudie 2.0
- Interaktive Graphik der BARMER
Neues Studienthema: Coolout in der Pflege
Ein Thema, welches neu in die aktuelle Studie aufgenommen wurde, soll mit diesem Beitrag erstmals veröffentlicht werden: Coolout in der Pflege. Ein Phänomen, welches die Pflegewissenschaftlerin Prof. Karin Kersting seit knapp 25 Jahren beschreibt und in ihren Forschungsarbeiten durchleuchtet. Pflegekräfte stehen demnach in einem Spannungsfeld zwischen normativen pflegerischen Ansprüchen (Stichwort: Patientenorientierung) und ökonomischen Zwängen des Pflegealltags (Kersting 2013). So geraten laut Marrs (2007) viele Pflegekräfte in einen Konflikt zwischen Arbeiten unter Zeitdruck und den eigenen Vorstellungen einer guten Pflege. Mögliche Folgen: Pflegende entwickeln Reaktionsmuster, um die Normverletzung im Alltag hinnehmen zu können. Um diese Konfliktsituation und mögliche Folgen besser erfassen zu können, wurden fünf Fragen zu Coolout in die aktuelle Befragung integriert.
Dabei zeigen die Ergebnisse in erster Linie, dass nur die Hälfte der befragten Pflegekräfte das Gefühl haben, den individuellen Bedürfnissen ihrer Patienten gerecht zu werden und die eigenen Ansprüche einer guten Pflege erfüllen zu können. Letztendlich sind rund 42% der Befragten zu der Akzeptanz gekommen, nicht gleichzeitig den Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden und ökonomisch arbeiten zu können.
Um diese Ergebnisse weiter einordnen zu können und unterschiedliche Perspektiven aus dem Berufsfeld einfließen zu lassen, haben wir Stimmen aus der Praxis zu ihrer Einschätzung von Coolout in der Pflege eingeholt.
Interview: Coolout in der Pflege
Pia Müller-Scheeßel – ehemalige duale Studentin in der Pflege
Pia Müller-Scheeßel arbeitet im Qualitätsmanagement eines Krankenhauses in Norddeutschland und hat für unser Interview auf ihre Zeit als duale Studentin in der Pflege zurückgeschaut.
IFBG: Wie nehmen Sie das Thema Coolout in Ihrem Arbeitskontext wahr?
Frau Müller-Scheeßel: Ich nehme es als ein sehr präsentes, alltägliches Thema auf den Stationen wahr. Kolleginnen und Kollegen und auch man selbst stecken in diesem Zwiespalt, gleichzeitig den Stationsaufgaben sowie der guten Patientenversorgung gerecht zu werden. Leider ist es kaum möglich, alle Aufgaben vorschriftsgemäß zu schaffen …
Viele geben sich Mühe, beides so gut es geht unter einen Hut zu bekommen. Doch haben auch einige bereits innerlich mit der Problematik – mehr oder weniger – abgeschlossen. Am Ende sind es leider die Patientinnen und Patienten, die diesen Zwiespalt zu spüren bekommen.
IFBG: Wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen, und wie kann man diesen (strukturell/verhältnispräventiv) begegnen?
Frau Müller-Scheeßel: Oft ist eine zu hohe Anzahl an Patientinnen und Patienten bei zu wenig Pflegekräften über einen längeren Zeitraum ein Grund für die Überforderung. Man arbeitet dauerhaft am Limit, und irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo man merkt, dass man den eigenen Anforderungen nicht gerecht werden kann. Dazu kommt häufig noch die mangelnde Wertschätzung durch Führungskräfte und Angehörige. Auch das ist sehr kräftezerrend und senkt die Motivation.
IFBG: Wie schätzen Sie die Auswirkungen von Coolout ein?
Frau Müller-Scheeßel: Ich glaube, dass vor allem die Pflegequalität und folglich die Patientinnen und Patienten darunter leiden, aber natürlich auch die Pflegekräfte selbst. Beide Seiten fühlen sich hilf- und machtlos. Viele Pflegekräfte sehen keinen anderen Ausweg, als die Arbeit in der Pflege aufzugeben.
IFBG: Was können (junge) Pflegekräfte tun, um sich vor dem Phänomen Coolout und dessen gesundheitlichen Auswirkungen zu schützen?
Frau Müller-Scheeßel: Ich finde es wichtig, dass Pflegekräfte Raum bekommen, darüber zu sprechen, wenn sie das möchten. Regelmäßige Supervisionen mit den Kolleginnen und Kollegen sind eine gute Möglichkeit, im geschützten Rahmen über solche Problematiken zu sprechen, Verständnis und Mitgefühl zu erhalten. Zudem können in diesem Rahmen auch Wünsche und Ideen geteilt werden, wie Stations- und Pflegeabläufe besser gestaltet werden können, um Coolout zu vermeiden.
IFBG: Wurde das Thema in Ihrer Ausbildung thematisiert?
Frau Müller-Scheeßel: Nur ganz grob. Es gab ein Modul, wo über die eigene Gesundheit gesprochen wurde und wie diese besser gefördert werden kann. Burnout war allerdings ein größeres Thema als Coolout. Besonders in der Ausbildung merkt man, dass die Theorie und die Praxis oft nicht übereinstimmen und die Pflege, wie man sie lernt, sich selten realisieren lässt. Vor allem junge Pflegekräfte sollten darauf vorbereitet werden und Methoden kennen, um einem Coolout vorzubeugen.
Ruth Wienöbst – Schulleiterin am Ammerländer Ausbildungszentrum für Gesundheitsfachberufe (AAfG)
Ruth Wienöbst ist Schulleitung am Ammerländer Ausbildungszentrum für Gesundheitsfachberufe (AAfG*). Das AAfG ist die Berufsfachschule Pflege sowie Fort- und Weiterbildungsstätte der Trägerhäuser Ammerland Klinik und Karl Jaspers Klinik. Mit großem Interesse hat sie die Studie gelesen und nimmt aus ihrer Sicht, der Schulleitung, Stellung zum Phänomen des Coolouts. In ihren Ausführungen reduziert sie sich auf das aktuelle Praxiserleben ihrer Auszubildenden.
IFBG: Wie ordnen Sie die Ergebnisse ein? Hätten Sie das so erwartet?
Frau Wienöbst: Leider muss ich sagen, dass ich die Ergebnisse im Großen und Ganzen so erwartet habe. Unsere Auszubildenden erleben im Pflegealltag viele großartige Momente auf den Stationen, wo sie viel lernen und sie die Wirksamkeit ihrer Pflege erleben. Sie erleben wunderbare Vorbilder und arbeiten gerne mit den zu pflegenden Menschen. Aber gleichzeitig berichten sie auch immer wieder von Pflegesituationen, die ihnen nicht guttun. Von Pflegefachpersonen, die emotional abgestumpft sind, sich resigniert zeigen und sich durch den eigenen Frust unfair verhalten. Insgesamt beschreiben die Auszubildenden, dass eine hohe Taktung und schnelle Auffassungsgabe von ihnen erwartet wird, welche zur Überforderung führen kann.
Ganz präsent bleibt das Phänomen des Präsentismus. Pflegefachpersonen leben diese „Aufopferungsbereitschaft“ vor und die Auszubildenden fühlen sich schnell den Patentinnen und Patienten sowie den Kolleginnen und Kollegen gegenüber verpflichtet, dass auch sie zeitweise krank zur Arbeit gehen.
IFBG: Wie nehmen Sie das Thema Coolout in Ihrem Arbeitskontext wahr?
Frau Wienöbst: Der Bereich Coolout ist aus meiner Warte schwer einschätzbar, da ich als Lehrende unsere Auszubildenden nur drei Jahre erlebe. Was ich aber sehr wohl wahrnehme, ist manchmal der Frust der Auszubildenden, den Bedürfnissen des Patienten nicht immer gerecht werden zu können. Sie beschreiben das Gefühl, sich gehetzt zu fühlen, und berichten von personellen Engpässen. Auffallend ist auch, dass in den letzten Jahren mehr Auszubildende die Ausbildung abgebrochen haben, aber hier sehe ich die Ursachen multifaktoriell begründet.
IFBG: Wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen dafür und wie kann man diesen (strukturell/verhaltenspräventiv) begegnen?
Frau Wienöbst: Aus Sicht des Theoriestandortes sind meine Möglichkeiten der strukturellen und verhältnispräventiven Veränderung begrenzt. Ich sehe unsere Aufgabe darin, die Auszubildenden gut durch die Ausbildung zu begleiten und ihnen Rüstzeug mitzugeben, die Arbeit gut und zur eigenen Zufriedenheit ausüben zu können.
Am AAfG pflegen wir eine sehr partnerschaftliche Beziehung zwischen Auszubildenden und Lehrenden, welche eine gute Vertrauensbasis schafft. Wir möchten zukünftige Kolleginnen und Kollegen ausbilden und sie darin unterstützen, einen guten Weg ins Berufsleben als Pflegefachperson zu finden. Die Auszubildenden werden stets durch Lehrende betreut, die selbst eine Pflegeausbildung absolviert haben. Die Kursleitenden stehen als Ansprechpartner und Lernentwickler zur Verfügung. In Lernentwicklungsgesprächen wird individuell auf die Sorgen, Nöte und Bedarfe des Einzelnen eingegangen. Durch die Bezugslehrenden findet eine kontinuierliche Begleitung bei den Praxisevaluationen statt.
In beiden Trägerkliniken stehen dem Auszubildenden fest zugeordnete Fachpraxislehrende als Vertrauensperson und Anleitender zur Verfügung. Es muss selbstverständlich sein, dass die Praxisphase zu Beginn eines Theorieblockes im Kurs evaluiert wird.
Hierfür wird das Instrument der kollegialen Beratung genutzt, welches am Anfang der Ausbildung in allen Kursen implementiert wird.
Im Unterricht „Persönliche Gesunderhaltung“ erlernt der Auszubildende Maßnahmen zur Stärkung seiner Resilienz und auch der Selbstfürsorge. Unter anderem erlernt er Entspannungstechniken wie die Progressive Muskelrelaxation und das Autogene Training. Alle diese Maßnahmen sollen dem Auszubildenden dazu dienen, seine eigene Pflegepersönlichkeit zu entwickeln.
Aus Sicht der Schulleitung möchte ich abschließend sagen, dass eine gute und fundierte theoretische Ausbildung den Auszubildenden dazu befähigen muss, sein professionelles Pflegeverständnis zu entwickeln. In der Ausbildung ist es unsere Aufgabe, die Basis zu legen für die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen. Es gilt, die Auszubildenden in ihrer Selbstreflexion und Selbstfürsorge zu stärken.
Auch nach 30 Jahren Berufserfahrung sage ich: „Pflege ist der schönste und facettenreichste Beruf der Welt“. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass auch die nachfolgenden Generationen den Beruf lieben und schätzen lernen.
*Das AAfG bildet aktuell ca. 200 Auszubildende zur Pflegefachperson aus. Die Altersstruktur unserer Auszubildenden ist sehr heterogen, sie sind zwischen 16 und 53 Jahren alt. Auch in ihrer Vorbildung unterscheiden sich unsere Auszubildenden sehr. Ein Teil der Auszubildenden startet direkt mit einem SEK 1 Abschluss, darüber hinaus gibt es aber auch eine große Anzahl von Auszubildenden, die bereits eine Ausbildung absolviert haben oder auch ein Studium begonnen oder auch abgeschlossen haben. Diese Informationen sind dahingehend wichtig, da sich aufgrund der unterschiedlichen Coping-Strategien unserer Auszubildenden auch das Praxiserleben sehr unterscheidet.
Alle unsere Angebote für die Gesundheit Ihrer Beschäftigter finden Sie hier.