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Neuigkeiten aus der Hirnforschung
„Lernen ist eine Tätigkeit, bei der man das Ziel nie erreicht und zugleich immer fürchten muss, das schon Erreichte wieder zu verlieren.“ (Konfuzius)
Auch wenn die Hirnforschung in den letzten Jahrzehnten einen großen Beitrag dazu geleistet hat, das menschliche Gehirn besser zu verstehen, lernen wir nie aus. Eine Forschungsgruppe des Massachusetts Institute of Technology machte Ende letzten Jahres eine vermutlich bahnbrechende Entdeckung im Zusammenhang mit dem Lernprozess im Erwachsenenalter.
Wie lernen wir?
Lernen wird in den meisten Fällen als Prozess definiert, bei dem Verhaltensdispositionen auf lange Sicht aufgebaut und/oder verändert werden. Eine Verhaltensdisposition beschreibt dabei die Bereitschaft eines Individuums, das eigene Verhalten zu ändern. Meist wird das neue Verhalten dabei aber nicht direkt gezeigt. Geschehen kann diese Veränderung aufgrund von äußeren Einflüssen, also Erfahrungen. Lernen können wir auf verschiedene Arten. Bekannte Lernformen sind die klassische Konditionierung, die operante Konditionierung und die Habituation (Haider, 2020). Der Lernprozess hat dabei immer strukturelle Veränderungen in verschiedenen Hirnstrukturen zur Folge. Wenn zwei Nervenzellen, auch Neurone genannt, gleichzeitig aktiviert sind, bildet sich eine Verbindung. Dies ermöglicht, dass eine zukünftige Aktivität in einem der beiden Neurone mit höherer Wahrscheinlichkeit auch zu einer Aktivität im anderen Neuron führt. So kann die Verbindung immer weiter gestärkt werden (Hebb, 2002).
Der Lernprozess im Kindesalter ist bereits gut erforscht. Wenn ein Kind etwas Neues lernt, entstehen Verbindungen zwischen verschiedenen Neuronen. Diese Nervenverbindungen werden als Synapsen bezeichnet. Über die entstandenen Synapsen können nun Informationen in Form von elektrischen oder chemischen Signalen übertragen werden. Bevor eine Nervenzelle eine Verbindung mit einer anderen Nervenzelle eingeht, ist die Synapse eine stille Synapse. Kinder haben eine Vielzahl dieser stillen Synapsen und daher die Möglichkeit, immer neue Nervenverbindungen zu bilden (Lieberman, 2020).
Im Erwachsenenalter sieht das allerdings anders aus – dachte die Forschung bis jetzt. Laut der bisherigen Annahme besitzen Erwachsene nur noch wenige solcher stillen Synapsen. Bekannt ist, dass auch im fortgeschrittenen Alter bestehende Verbindungen durch Übung gestärkt oder durch einen fehlenden Übungsprozess geschwächt werden können. Wie allerdings auch im Erwachsenenalter neue Dinge gelernt werden können, ohne dass bereits bestehende Nervenverbindungen überschrieben werden, war bislang ein Rätsel (Lieberman, 2020).
Neue Erkenntnisse
Eine Forschungsgruppe des Marburger Ionenstrahl-Therapiezentrums (MIT) machte eine erstaunliche Entdeckung. Im Gehirn erwachsener Mäuse wurden zahlreiche stille Synapsen gefunden. Durch ein neues bildgebendes Verfahren war es den Forschenden möglich, noch detailliertere Bildausschnitte zu betrachten. Darauf wurden an den Membranen der Nervenzellen viele kleine Ausbuchtungen, auch Filopodien genannt, entdeckt. Die zunächst unbekannte Funktion dieser Ausbuchtungen wurde durch ein Experiment deutlich.
Durch eine gleichzeitige Stimulation von benachbarten Neuronen bildeten sich Verbindungen, die elektrische Signale weiterleiten können. Bereits bestehende Nervenverbindungen zeigten auf die Stimulation kaum eine Reaktion. Im Gegensatz dazu reagierten die zu untersuchenden Ausbuchtungen schnell auf die Aktivierung. Die Forschungsgruppe geht davon aus, dass es sich bei der Entdeckung um stille Synapsen handelt (Vardalaki et al., 2022).
Unter der Voraussetzung, dass diese Synapsen dauerhaft aktiv bleiben, würde das bedeuten, dass Erwachsene auf die gleiche Art und Weise lernen können, wie Kinder es können.
Hier gelangen Sie zu der Veröffentlichung des MIT.
Quellen:
- Haider, H. (2020). Lernen, Lernforschung. In Lexikon der Psychologie (19. Auflage). Hogrefe.
- Hebb, D.O. (2002). The Organization of Behavior: A Neuropsychological Theory (1st ed.). Psychology Press.
- Lieberman, D. (2020). Learning and Memory (2nd ed.). Cambridge: Cambridge University Press.
- Vardalaki, D., Chung, K., & Harnett, M. T. (2022). Filopodia are a structural substrate for silent synapses in adult neocortex. Nature, 612(7939), 323-327.